von Karen Christine Angermayer

Die erste Textgeburt, der „shitty first draft“, ist geschafft, yes! Die meisten Autoren sind froh, wenn diese Phase vorüber ist. Nicht nur mental fühlt man sich plötzlich 10-20 Kilo leichter. Die eigentliche Arbeit fängt allerdings jetzt erst an. Denn jetzt kommt der Feinschliff. Das Tüpfelchen auf dem i, das den Text auf Weltklasse-Niveau anhebt. Waren vorher die freie, ungebremste Kreativität und das Ignorieren des inneren Kritikers gefragt, kommen genau dieser Kritiker und unser Verstand nun so richtig zum Einsatz.

Dazu gibt es eine ganze Reihe von „Spaten-Ansetz-Möglichkeiten“. Sie sind für alle Textarten geeignet, an denen du arbeitest: Bücher, Blogbeiträge, Newsletter, Vorträge, Seminarankündigungen u.v.m. Den ersten Schwung an Möglichkeiten schauen wir uns in der heutigen Folge an. Viel Spaß!

Folgende Begebenheit las ich neulich in einem Buch übers Schreiben: Zwei US-amerikanische Autoren trafen sich und unterhielten sich beiläufig über die Vorschüsse, die sie für ihre Bücher erhielten. Der eine war stolz, etwa 30.000 Dollar für jedes neue Buch zu erhalten. Er hatte schon mehrere Bücher veröffentlicht und hielt sich für ganz erfolgreich.

Der andere nickte anerkennend, dann teilte er ganz offen mit dem Kollegen, dass er 600.000 Dollar bei der Unterzeichnung eines neuen Buchvertrags bekommen würde. Dem ersten verschlug es die Sprache. (BTW: Uns deutschen Autoren verschlägt es in der Regel schon angesichts der ersten Summe die Sprache …) Wie konnte das sein?

Eine kurze Vorbemerkung: Natürlich kommen solche hohen Summen durch viele Aspekte zustande: die Höhe der Absätze, den Bekanntheitsgrad des Autors, die Größe seines aktiven Netzwerks, bisherige Erfolge … Zu erwartende Umsätze sind nicht vorhersehbar und beeinflussbar. Doch was wir als Autor immer beeinflussen können und sollten, ist die Qualität unserer Texte.

Die beiden Autoren sprachen über ihre Arbeitsweise und kamen auf das Thema „Feinschliff“.

Der erste meinte: „Ich überarbeite meine Texte vier bis fünf Mal, dann sind sie in der Regel fertig.“

„Oh“, meinte der zweite. „Ich muss in der Regel etwa zwanzig Mal über meine Texte gehen, dann kann ich sie guten Gewissens beim Verlag abliefern.“

Bemerkst du den Unterschied?

Hast du auch schon festgestellt, dass deine Texte deutlich kraftvoller werden, nachdem du sie mehrmals feingetuned hast? Gute Texte reifen oft wie ein guter Wein. Das soll nicht heißen, dass uns ab und an Glanzstücke gelingen, die gleich beim ersten Mal aus der Feder rutschen. Die gibt es durchaus. Meiner Erfahrung nach jedoch wird ein Text umso klarer, „essenziger“ und powervoller, wenn wir das Zusatzquäntchen Disziplin aufbringen und die nötige Zeit fürs Editieren.

Viele Autoren wissen gar nicht, wo sie gezielt den Rotstift ansetzen sollen. Sie gehen nach Bauchgefühl, und das hilft auch bis zu einem gewissen Grad. Bauchgefühl, das ist die innere Signallampe, die anschlägt und uns zuflüstert: „Nimm dieses Wort lieber weg, ersetze es durch ein anderes. Streiche diesen Satz. Füg hier noch was ein …“ Bis zu einem gewissen Punkt bringt uns unser Bauchgefühl brauchbare Ergebnisse. Doch konkrete Werkzeuge – und je mehr davon im Köfferchen, umso besser – helfen im Leben. Auch ein Chirurg arbeitet nicht nur mit einem einzigen Messer. Dabei hätte er keine Freude und wir als Patient auch nicht.

Die folgenden Impulse, die ich dir heute gebe, klingen auf den ersten Blick alle recht einfach, haben aber große Wirkung. Probiere es bei einem aktuellen Text einfach mal aus. Viel Spaß!

1. Frage dich vor dem Bearbeiten, am besten schriftlich auf einem separaten Blatt Papier: An wen richtet sich mein Text? Welche Zielgruppe möchte ich ganz besonders erreichen? Prüfe beim Lesen des Textes, ob sich diese Menschen bereits angesprochen fühlen. Wenn nicht – was brauchen sie noch, damit sie das Gefühl haben, dass sie gemeint sind? Wie kannst du noch gezielter auf sie und ihre Welt eingehen, ihre speziellen Bedürfnisse?

2. Welche Botschaft hat dein Text? Bist du dir darüber schon im Klaren? Wenn du es nicht bist, wird es dein Leser auch nicht sein. Notiere die Hauptbotschaft deines Textes, am besten auch auf einem separaten Blatt Papier, und sieh nach, ob sie genügend geschärft ist. Durch welche Unter-Botschaften stützt du deine Aussagen? Reichen sie aus? Ergeben sie ein stimmiges Bild? Versetze dich immer in die Lage eines Lesers, der keine Ahnung von deinem Thema hat. Nimm ihn auf deinen Schoß (gedanklich) und sprich zu ihm wie zu einem Kind.

3. Stelle auch klar, dass du das Ziel deines Textes vor Augen hast: Was willst du erreichen? Warum tust du das Ganze? Was soll dein Leser verstehen? Wie soll er handeln? Bearbeite den Text so lange, bis dein persönliches Ziel wirklich erreicht ist. Wenn du z. B. wichtige Informationen vermitteln möchtest, stelle sicher, dass sie alle im Text enthalten sind und vor allem auch leicht verdaulich sind. Wenn der Leser dich nach der Lektüre als Redner, Coach oder Seminarleiter buchen soll, vergiss den Call-to-Action nicht (klingt banal, passiert aber ständig).

4. Die richtige Länge: Hast du nur eine begrenzte Zeichenzahl zur Verfügung? Dann halte diese ein. Niemand möchte die Aufgabe übernehmen, deinen Text zu kürzen. It´s your job. In der Kürze liegt meist die Würze, daher trau dich, dich von den „Darlings“, also Lieblingsformulierungen, radikal zu trennen, auch wenn du sie feierst. Raus damit, wenn sie nicht wirklich etwas zur Information oder Wirkung des Textes beitragen. Beim Drehbuchschreiben sagt man: Wenn sie die Story nicht vorantreiben.

5. Der gute Ton: Welchen Tonfall möchtest du deinem Text gerne verleihen? Eher sachlich oder humorvoll-provokant? Hast du dieses Potenzial schon voll ausgeschöpft? Sonst geh in einem separaten Bearbeitungsgang lieber noch mal ran! Für humorvolle Texte eignet es sich, kurz vor dem Schreiben/Feinschliff ein paar Minuten humorvolle Comedy im Internet oder Fernsehen zu schauen oder lustige Musik anzuhören, die dich heiter macht. Dein Tonfall auf dem Papier wird sofort lockerer.

6. Vollständigkeit: Prüfe genau, ob du alles gesagt hast, was wichtig für den Leser ist. Oftmals vergessen wir angesichts der Fülle der Anforderungen, alles Entscheidende im Text unterzubringen, die Länge einzuhalten, „cool“ zu schreiben etc., dass der Text auch vollständig sein muss. Wenn du einen Gastbeitrag für einen Blog schreibst, dich bei einem Veranstalter bewirbst oder etwas an Verlage sendest, mögen die es nicht so gerne, wenn du noch 5 „Verbesserungsmails“ hinterherschiebst, weil du den Text zu dir als Speaker/Trainer/Coach total vergessen hast oder das Dankwort, weil dir noch ein paar Kommas zu viel aufgefallen sind – oder weil du statt des aktuellen Partners versehentlich deinen Ex-Mann in der Widmung stehen hast. Lieber vorher prüfen, dann öffnen sich keine Fehlerfässer! Die Menschen auf der anderen Seite deines Computers haben auch einen vollen Tag, sie denken an vieles – doch sie sind auch nur Menschen. Gib ihnen die eine, richtige Fassung.

7. Ein ganz entscheidender Punkt sind auch die Gefühle. Soll dein Leser etwas fühlen bei der Lektüre, und wenn ja, was? Soll er sich gut unterhalten fühlen? Soll er das Gefühl haben, einen wichtigen Schritt in seinem Beruf oder seinem Privatleben dank dir besser meistern zu können? Soll er Vertrauen in dich und deine Arbeit schöpfen? Prüfe in einem eigenen Bearbeitungsgang daher immer auch die emotionale Führung des Textes. Würdest du dir selbst vertrauen, dich selbst buchen, wenn du auf dem Stuhl des Lesers sitzen würdest?

8. Echtheit und Lebendigkeit: Sicher hast auch du schon Texte gelesen, die gestelzt klangen, unecht oder leblos. Versuche mal, so locker zu schreiben, wie wenn du einem guten Freund oder einer guten Freundin im Café gegenübersitzt. Das ist ein ganz anderer Tonfall als eine Doktorarbeit, oder? Stell dir einfach vor, ein netter Mensch sitzt beim Schreiben neben dir. Plaudere mit ihm.
Peter Ellbow, amerikanischer Schreiblehrer, schreibt seine kurzen Texte übrigens am liebsten 4 Mal: Er notiert sich immer am Schluss einer Version, was er in der nächsten Fassung verbessern möchte. Beim nächsten Mal öffnet er eine komplett neue Datei und schreibt die zweite Version von Anfang bis Ende … bis er bei der 4. Version angelangt ist. Ich kann dir sagen: Das funktioniert und liest sich viel besser und flüssiger, als wenn du an einer einzigen Datei klebst. Oftmals geht es sogar schneller, auch wenn man es nicht glauben mag.

9. Der Zoomblick: Ich persönlich habe mir angewöhnt, Texte in Abschnitte zu unterteilen, wenn ich sie prüfe. Ich richte mein Augenmerk dabei auf 4 einzelne Aspekte:
a. Auf den ganzen Text
b. Auf die einzelnen Absätze
c. Auf die einzelnen Sätze
d. Auf die einzelnen Worte
Wenn du dich auf diese Weise wie mit einem Teleobjektiv einer Kamera in deinen Text rein- und wieder rauszoomst, bekommst du ein sehr gutes Gefühl für das Ganze wie für seine einzelnen Teile.

10. Abschließend noch für heute ein Tipp, den du sicher schon gehört hast: Die Sache mit den Füll- oder Blähwörtern. Blähungen sind auch bei Texten unangenehm. Sie machen den Text scheinbar größer oder gewaltiger – schwächen ihn aber in Wirklichkeit. Zu den Füllwörtern gehören solche wie z. B. „irgendwie, eigentlich, vielleicht, in etwa, ein Stück weit“ … Blähwörter wiederum sind solche, die eine kleine Silbe an ein Wort hängen, um ihm vermeintlich mehr Bedeutung zu verleihen: anmieten statt mieten, befragen statt fragen. Streich sie alle raus! Je einfacher du schreibst, desto leichter wirst du verstanden. Komm dir selbst auf die Schliche, welche Wörter du gerne und oft verwendest – auch im gesprochenen Wort – und mach dir eine Liste. Mit der Zeit wirst du sie in Texten immer seltener verwenden.

So, das war der erste Schwung heute für dich an Möglichkeiten, auf die du dein Augenmerk richten kannst „on the way“ zu den 30.000 Dollar und natürlich gerne mehr.

Mein Tipp für dich: Druck dir diese Checkliste aus und geh sie der Reihe nach durch. Manche Punkte lassen sich zusammenfassen und in einem Rutsch erledigen, doch für andere Verbesserungen braucht es einen separaten Durchgang.

Lass dir genügend Zeit für die Phase des Feinschliffs und räume dir kleine Belohnungen ein. Zum Beispiel etwas Leckeres zu essen, einen Spaziergang, ein neues Buch oder ein wohltuendes Bad.

In der nächsten Folge schauen wir uns weitere mögliche Spaten-Ansatzpunkte an.

Für heute wünsche ich dir viel Freude und Erfolg, mach es gut – und schreib dein Buch! Und denk an die richtige Widmung 😉

Karen Christine Angermayer
Autorin, Ghostwriterin, Beraterin für Expertenmarketing, Sichtbarkeit und Positionierung

KAREN CHRISTINE ANGERMAYER ist international erfolgreiche Autorin von mehr als 30 Büchern bei 7 großen Verlagen. Als Ghostwriterin und Verlegerin der sorriso GmbH hat sie in den letzten 5 Jahren über 50 Projekte von der ersten Idee bis zum vertriebsreifen Buch betreut. Außerdem hat sie in persönlichen Coachings und Beratungen unzählige Manuskripte vor dem sicheren Tod gerettet.

Als Beraterin für Speaker, Trainer und Coaches begleitet sie in den Phasen Dramaturgie, Exposé, Manuskript, Verlagssuche, Kalkulation, Herstellung und Vermarktungskonzepte. Sie berät Selbständige und Unternehmen zu den Themen Sichtbarkeit, Positionierung, Online- und Offline-Marketing, Funnels und Veröffentlichungen. Ihre Leistungen werden in vielen Fällen staatlich bis zu 50-80% gefördert. Kontakt: www.angermayer-sorriso.com